Minileseprobe der Woche 35
Die junge Frau mit den Bernsteinaugen strich sich das Haar aus dem Gesicht. Schweißperlen glänzten auf ihrer hohen Stirn. Sie streckte sich.
Der Rückweg war nicht sehr lang gewesen, aber sehr verwirrend. Sie blickte über den breiten langsam fließenden Fluss. Nachdenklich. Das Kanu hatte sie weit an Land gezogen, in Sicherheit vor der alles mit sich führenden Strömung des Wassers. Nicht weit von hier, mündete der Fluss in einem Meer. Die junge Frau konnte die hohen Bauten der Stadt sehen, die sich hinter den dichten Wäldern erhoben und den Fluss auf seinen letzten Kilometern zum Meer begleiteten.
Sie schloss die Augen und atmete tief durch. Da war es wieder. Erinnerungsfetzen flatterten vorbei. Längst vergessene, tief vergrabene Bilder. Ein schwarzes Pferd mit weit ausgestreckten Flügeln flog mit kräftigen Bewegungen auf sie zu. Das Bild verschwand. Aufgelöst in einer dicken Nebelwand, die sich aus dem Nichts vor ihr aufbaute. Ein Schauer lief ihr über den Rücken. Sie sah zur Stadt hinüber. Die drei Sonnen hatten den höchsten Punkt verlassen und senkten sich nun langsam über die hoch hinausragenden Türme der Stadt.
Weitere Erinnerungsfetzen tauchten auf und verschwanden gleich darauf wieder in den Tiefen ihres Unterbewusstseins.
Sie saß auf dem Rücken eines rabenschwarzen Pferdes und ritt über eine saftig grüne Bergwiese. Etwas berührte ihre Wade. Es war ein Flügel. Schwarz und kräftig breitete er sich unter ihr aus. Dann das Gesicht eines alten Mannes. Seltsam vertraut und doch so unendlich fern. Er hielt eine Kette hoch. Einen weißen Stein an einem Lederband.
Unwillkürlich griff sich die junge Frau an die Brust. Sie griff nach der Kette die sie trug, einem weißen Stein mit blutroten, eingravierten Linien. Er war angenehm kühl. Spendete Erfrischung in dieser fast unerträglich feuchten Hitze…
…Die junge Frau runzelte nachdenklich die Stirn. Es musste etwas zu bedeuten haben. Aber was? Sie atmete tief durch und versuchte sich zu erinnern. Was gab es da noch? Wer war der alte Mann? Was hatte es mit diesem Pferd auf sich? Ein geflügeltes Pferd. Ein Pegasus. Ein Fabeltier. So etwas gab es doch gar nicht. War es ein Traum? Eine Warnung? Ein Zeichen? Was war Einbildung und was Wirklichkeit? Irgendwie fühlte es sich aber so wirklich an. Sie konnte die Wärme des Tieres unter sich fast fühlen...
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