Minileseprobe Woche 35
Tora zog Charlie an diversen Buden, Ständen und Wagen vorbei. Der herbe, beißende Gestank von Tierexkrementen wurde stärker und Charlie konnte das Trampeln und Scharren hören. Und dann sah sie es! Dort am äußersten Ende des sandigen Marktplatzes waren etwa ein Dutzend buntgefiederte Kreaturen angebunden. Das, was Tora als Hippolektrion bezeichnete, waren pferdeähnliche Wesen mit einem sehr kräftigen Kaltblutkörper und einem Kopf wie ein Hahn. Die bunte Federpracht streckte sich bis zum Halsansatz und ging dort in das Fell eines Pferdes über. Es gab sie in verschiedenen Farben, von diversen Brauntönen über Apfelschimmel und Grauschimmel bis Schwarz. Sogar ein Schecke war unter dem Dutzend fest vertauter Tiere. Die Hinterhufe waren mit dünnen Seilen zusammengebunden, ebenso die vorderen, die seltsamerweise in dicken Lederschuhen steckten. Charlie fragte sich gerade, was so dünne Seile wohl für einen Nutzen hatten, als Tora Charlie zur Seite zog und sehr leise flüsternd erklärte:
»Siehst du die Vorderläufe?«
Charlie nickte.
»Es sind riesige, scharfe Klauen! Sehr gefährlich. Wenn sie keine Schuhe tragen, können sie einem trotz der Seile großen Schaden zufügen. Sie stellen sich auf die Hinterhufe und fuchteln mit den Vorderläufen durch die Luft. Bei der Arbeit auf dem Feld sind die Beine natürlich nicht gebunden. Dann ist es besonders wichtig, dass die Schuhe fest verschnürt sind!«
Toras Augen funkelten und leuchteten vor Aufregung. Man hätte fast glauben können, dass nicht Charlie, sondern Tora von der Erde stammte! Offensichtlich waren Hippolektrion, trotz ihrer Anwendung als Arbeitstiere, eine Sensation. Ein pechschwarzes Hippolektrion schüttelte wütend seine grünrot glänzende Federmähne und gab brummende und grunzende Töne von sich. Zu mehr war es nicht fähig, da er genau wie die anderen in der Reihe einen Lederriemen um den riesigen Schnabel geknotet trug. Sein großer, fleischiger Mähnenkamm schwenkte bedrohlich hin und her. Der Rappe stampfte und tobte an seinem dünnen Seil, aber die Leine gab keinen Zentimeter nach. Als Charlie das Hippolektrion näher betrachtete, sah sie plötzlich, dass der Sand unter seinen Hufen blutrot war! Tora hatte es auch bemerkt.
»Das ist offensichtlich der, der so einen Lärm gemacht hat«, flüsterte sie mit einem Schaudern. »Er muss jemanden verletzt haben.«
Sie begann sich umzusehen.
»Ja, da drüben. Sieh nur!« Entsetzt zeigte sie auf einen kräftigen Mann, der von einer kleinen Menschentraube umgeben wie paralysiert dastand. Sein linker Arm war furchtbar zugerichtet. Haut und Muskeln hingen ihm in Fetzen von den Knochen. Überall war Blut. Es tränkte seine Kleidung, den staubigen Boden und Teile des Umhanges eines anderen Mannes, der gerade versuchte, den zerhackten Arm des Opfers auf einem Holzblock festzuzurren. Dann ging alles ganz schnell. Ein weiterer Mann hob eine riesige Axt hoch über seinen Kopf und ließ die Axt dann mit aller Kraft hinunter sausen. Charlie hörte es krachen, wie wenn Holz bricht. Blut spritzte den umstehenden Menschen ins Gesicht und der zerfetzte Arm des kräftigen Mannes flog sauber abgetrennt in einem hohen Bogen durch die Luft. Der Mann sackte leblos in sich zusammen, während sich flinke Hände am kurzen Stumpf zu schaffen machten. Charlie war speiübel. Blass und fassungslos starrte sie zu der blutigen Szenerie hinüber, unfähig ihren Blick zu lösen. Von weit entfernt hörte sie Toras zitternde, erschütterte Stimme und fühlte, vage wie jemand sie am Ärmel zog. Charlie blinzelte und schluckte ein paar Mal, dann sah sie in Toras ebenso kreideweißes Gesicht und folgte ihr ohne Zögern.
Weg! Nur weg von hier!, dachte sie und versuchte mit großer Anstrengung zu vermeiden, sich zu übergeben.
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